Schau mal unser Gipsbaby

Diagnose: beidseitige Hüftluxation

Alter bei Diagnose: 1 Tag

Behandlung: 2 Wochen Tübinger Schiene, 2 x 3 Monate Hüftgips, OP der linken Seite, 2 x 6 Wochen Coxaflex Schiene, erst 24/7 auf nackter Haut, dann auf Kleidung, schließlich nur nachts

Verlauf:

Meine Tochter ist gestern 20 Monate alt geworden und ich kann mich an ihrer Freude an Bewegung gar nicht satt sehen. Das war leider nicht von Anfang an so:

Nachdem sich die Kleine trotz Akupunktur, Yoga, auf Knien rumrutschen, Tee und allen anderen Mitteln im Bauch nicht drehen wollte kam sie per geplantem Kaiserschnitt auf die Welt. Der Kaiserschnitt verlief auch nach Plan, alles andere leider nicht. Ich habe in der Frauenklinik in Stuttgart entbunden und hatte Glück im Unglück – eine scharfsinnige Frauenärztin hat sofort den ersten Ultraschall angesetzt. So kam prompt am ersten Tag die Diagnose: angeborene Hüftdysplasie beidseitig (Q65.9),Hüftluxationsstellung links (Q65.2).
Weitere Diagnose: bds. Hüften IV Grad nach Graf, Hüften mit deutlichem Interponat
Hüftsonographie: Links Typ IV, rechts Typ IIIa nach Graf, Rechte Hüfte: Schlechte Formsicherung, flacher knöcherner Erker, verdrängter knorpeliger Erker, Alphawinkel unter 43 Grad, Betawinkel über 77 Grad. Hüfttyp IIIa, Linke Hüfte: Luxationsstellung, flacher knöcherner Erker, verdrängter knorpeliger Erker, Alphawinkel unter 43 Grad, Betawinkel über 77 Grad. Hüfttyp IV.

Am 1. Lebenstag hat meine Tochter die Tübinger Schiene bekommen und der Schock über die Diagnose hat uns Eltern jegliche Farbe im Gesicht verlieren lassen. Die Geburt war noch nicht verdaut, alles war neu und plötzlich höre ich, dass beide Beine meiner Tochter außerhalb der Hüfte sind. Ich war außer mir! Ein paar Tage später sollte sie für ihre erste Narkose in den OP Saal geschoben werden, um einen Gips angelegt zu bekommen hüftabwärts bis zu den Füssen. Konkret: Geschlossene Reposition und Anlage eines BBF-Gipses unter sonographischer Kontrolle in Vollnarkose. So früh die erste Narkose? Es liefen Tränen, es klingelten die Alarmglocken bei dem Wort Narkose in einem so frühen Alter, indem das Gehirn noch in der Entwicklung ist, und es klingelten die Telefone Sturm. Wir haben einen Abend zuvor die „OP“ abgesagt. Wir haben diese Entscheidung mit so wenig Wissen und mit so wichtigen Konsequenzen nicht verantworten können. Zwei Wochen nach ihrer Geburt sollte es dann so weit sein, der neue Termin war für diesen Tag datiert. Ab da waren wir nur am E-Mail schreiben, telefonieren, Websites aufsuchen, Kontakte abklappern… irgendjemand musste sich doch auskennen in diesem Bereich? Wir wollten mit einem ein paar Tage alten Baby 700 km fahren, um eine Expertenmeinung einzuholen, wir wollten in die Schweiz fliegen, wir wollten privat viel Geld ausgeben, kein Weg war zu anstrengend und zu weit. Was uns am meisten Sorgen machte war die so frühe Narkose und mit dieser auch die Aussicht auf zwei weitere. Der Gips war für 3 Monate angelegt und sollte alle vier Wochen unter einer weiteren Vollnarkose gewechselt werden. Es war einfach ein Albtraum.

Die Recherche in diesem Gebiet online war sehr schwierig und sehr unbefriedigend. Nach langem Hin und Her haben wir uns doch wider Erwarten für die Gipsanlage und somit leider auch für die Narkose entschieden. Heute denke ich, dass dies der richtige Schritt war. Damals hatte ich gar kein Gefühl dafür und die Verantwortung für diese Entscheidung in den ersten Tagen lastete sehr schwer auf uns.

Vor Schock ist nach ein paar Tagen auch die Milchproduktion bei mir so gut wie eingeschlafen und ich konnte machen was ich wollte, aber ich musste von Anfang an zufüttern. Ich hatte das Gefühl, dass nun alles schief lief und anstatt die Narbe (Kaiserschnitt), die nicht heilen wollte, zu kurieren sind wir von einem Arzttermin zum nächsten, von einer Warteschleife zum überfüllten Wartesaal, zum wieder endlosen Warten auf Experten etc. gehetzt. Bis heute schaue ich Müttern mit kleinen Babys auf der Straße hinterher und denke mir „Ach, so muss das also sein.“ Bis heute fühle ich mich dieser ersten Zeit und dem „bonding“ beraubt. Meine Tochter hatte seit Tag 1 eine Tübinger Schiene und seit Woche 2 einen Gips mit einem dicken Stab zur Stabilisierung zwischen den Beinen. Ich konnte mein Kind somit gar nicht so eng an mich drücken wie die anderen Mütter. Eng schon, nur nicht so nah. Die ersten Wochen hatte ich immer wieder blaue Flecken am Bauch verursacht durch den Stab, der beim Tragen der Kleinen in der Manduka, immer wieder in meine Mitte drückte.

Die Nacht vor dem „OP-Termin“ (Es war keine richtige OP, aber eben mit Vollnarkose) war der Horror. Wir waren beide aufgelöst, ich konnte mich gar nicht beruhigen, die Kleine wurde zum Essen und Trinken nacheinander jeweils geweckt (Sie durfte nur bis 3 Uhr essen und bis 5 Uhr trinken) und die Panik vor dem was vor uns lag und der Angst, dass sie vor Hunger nur noch brüllt, war groß. Um 6.30 Uhr befanden wir uns bereits auf der Station, eine Stunde mussten wir warten. Die Kleine hatte natürlich Hunger und hat gebrüllt wie am Spieß, ich konnte in meiner Hilflosigkeit meinen Tränenfluss nicht aufhalten und als ich den kleinen Wurm im OP abgeben musste war ich bereits fix und fertig. Die nächsten Stunden verbachten wir schweigend und wartend, sie sollte nach der Narkose von alleine aufwachen. Diese Hilflosigkeit vergesse ich nie.

Nach zwei weiteren Terminen dieser Art und somit dem Gipswechsel waren die drei Monate irgendwann rum und die kleinen Strampler und Hosen ungenutzt zur Seite geräumt. Es war klar, dass die Kleine hinterher noch eine Schiene bekommt (Coxaflex-Schiene), die sie ein paar Wochen nonstop und direkt auf der Haut tragen muss und die sukzessiv weniger genutzt wird. Nicht klar war, dass bei der Behandlung leider nur auf der rechten Seite ein Erfolg aufzuweisen war. Die linke Seite sollte, sobald die Kleine 5 Monate wird, operiert werden: arthroskopische Reposition der linken Hüfte stand nun also als nächstes an.

Wieder ein Schock. Nach all dem musste sie also jetzt doch operiert werden und weitere drei Monate Gips und mehrere Wochen Schiene hinter sich bringen. Ja ich fand mein Kind besonders und toll, aber musste sie auf diese Weise „one in a million “ sein?

Der erste OP-Termin musste verschoben werden. Die Kleine war erkältet und obwohl wir schon im Krankenhaus waren, „eingecheckt“ hatten, alles vorbereitet war haben wir uns dagegen entschieden. Die Anästhesistin erklärte uns das Risiko bei Erkältung und Narkose – es konnte im schlimmsten Fall vorkommen, dass die Kleine nicht oder sehr spät nach der OP aufwacht. Das wollten wir auf keinen Fall riskieren. Sechs Wochen später war es so weit: arthroskopische Reposition mit Resektion Ligamentum teres, Resektion Pulvinar, Kapselrelease links und anschließender Becken-Bein Gips Anlage wartete auf uns.

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Alltag:

Mit einem Gips dieser Art muss man gleich den Anfängerkurs „Windeln wechseln“ überspringen und den für Fortgeschrittene machen. Wir wurden angewiesen, die Klebestreifen von den Pampers abzureißen, um Verbrennungen dieser Art unter dem Gips zu vermeiden. Die Pampers wurde dann mit einem Holzstäbchen (ähnlich wie beim HNO) vorne und hinten in den Gips reingedrückt. Je näher der nächste Gipswechsel kam desto mehr Sorgen hatten wir – das Kind wächst, hat sie auf die letzten Tage Schmerzen, da der Gips zu eng ist? Man konnte sie ja nicht fragen.

Koliken kamen wie auch bei anderen Babys auch bei uns auf. Die Bewegungslosigkeit der Beine hilft bei solchen Problemen leider nicht, ganz im Gegenteil.

Außerdem problematisch wurde mit der Zeit das Thema Auto fahren und auch Kinderwagen. Hingegen aller Gerüchte im Krankenhaus, man könnte ganz einfach im Sanitätshaus einen Spreizsitz ausliehen und über die Krankenkasse abrechnen lassen, war die Suche nach diesem Komfort mühsam und schwierig. Die meisten Sanitätshäuser kannten weder den Autositz noch den speziellen Kinderwagen geschweige denn, dass sie diesen auf Lager hatten. Schließlich bin ich an einen wahnsinnig netten Mitarbeiter des Sanitatätshauses Glotz gekommen, der mir einen „Reha Buggy mit Beinauflage im Sonderbau (Marke: Kimba) “ nicht nur besorgt hat, sondern auch nach Hause gebracht hat. Ein Lichtblick in all dem Trubel. Eine Spreiz-Auto-Babyschale ergatterte ich schließlich bei der Efinger Reha Technik GmbH in Würzburg, die mir das gute Stück nach Hause schickte. Ich kann bei der Suche nach einem Autositz empfehlen sich dort direkt zu melden. Diese Info hätte mir viel Zeit gespart.

Baden konnten wir die Kleine in den jeweils 2×3 Monaten natürlich gar nicht und auch in der Schienenzeit erst als wir die Schiene für 1-2 h pro Tag abnehmen durften. Wir haben daher monatelang Katzenwäsche gemacht und das erste Baden war damit alles andere als idyllisch – die Kleine hatte Angst vor dem Wasser.
Außerdem musste unter die Füße und Beine immer ein Stapel an Kissen oder Handtüchern – die Füße mussten hochgelegt werden, damit die Durchblutung noch richtig funktioniert. Wir hatten also immer mehr Gepäck dabei als die anderen.

Fazit:

Keiner ist auf eine solche Diagnose vorbereitet. Unser „happy end“ sieht so aus: Nach  dem Befund per Ultraschall, der durch Röntgen bestätigt wurde, sind die Hüften beidseitig überdacht und zentriert. Die nächste Kontrolle per Röntgen erfolgt kurz vor ihrem zweiten Geburtstag. Babyschwimmen ist leider für uns ausgefallen und auch vor dem Baden hatte die Kleine sehr lange Angst. Heute will sie die Badewanne kaum verlassen. Zudem ist Wasser aus-und umschütten einer ihrer liebsten Tätigkeiten.

Nachdem sowohl Gips und Schiene endlich ab waren hat sie sich sehr schnell an die neue Freiheit gewöhnt. Bereits mit Schiene hat sie seitlich geschlafen und sich dabei am Gitterbett festgehalten. Ich wusste zuvor gar nicht, dass Schlafen so möglich ist. Mit 12 Monaten stand sie das erste Mal stolz und hielt sich an einem Stuhlbein fest. Was war das für ein Anblick für uns! Ein Fest! Mit 15 Monaten und damit viel früher als von mir erwartet ist sie bereits herumgelaufen. Tatsächlich wurde ich mehrfach angesprochen als Passanten sie beim Laufen beobachteten mit dem Kommentar „Die läuft ja schon gut für ihr Alter!“ Das war ein Ritterschlag! Sie hat so wahnsinnig schnell aufgeholt, man merkt den Bewegungsdrang an jeder Stelle. Außerdem ist sie ein starker Charakter und will alles selber machen. Bis heute darf ich ihre Beine, wenn sie wach ist nicht mit irgendwas bedecken. Davon hatte sie offensichtlich genug. Und die meiste Zeit war sie im Gips trotzdem ein lächelndes und interessiertes Kind. Ich bin überzeugt, dass die lange Fixierung ihren intensiven Bewegungsdrang ausgelöst hat. Und wenn sie jetzt herumspringt kann ich manchmal nur den Kopf schütteln und voller Dankbarkeit sagen. „Schau mal, unser Gipsbaby!“